Vor kurzem war ich in Schweden. Ich hatte von den Kindern dort schon gehört. Nicht viel Schönes. Eher nerviges. Laut. Respektlos. Überall. Nun mag ich aber Kinder. Und hatte diese Beschreibungen als maßlose Übertreibungen abgetan. Bis ich an meinem zweiten Tag in einem Café saß, es war Sonntag. Ich wollte meinen Kaffee trinken. In Ruhe. Wir saßen in einem kleinen Nebenraum, der eine Flügeltür hatte. Die war sehr schön, das fand ich auch. Weiß. Aus Holz. Weit stand sie offen. Bis da ein kleiner dicker Junge kam. Wobei – so klein war der nicht, er war mindestens zehn Jahre alt. Ein Alter, das möchte ich betonen, in dem mich meine Eltern für haftungsfähig hielten. Bei unangemessenem Verhalten in der Öffentlichkeit oder Missachtung von Tischmanieren hätte man mich zur Adoption freigegeben.
Dieser dicke Junge also, dem war langweilig, und so entdeckte er die Tür. Er stellte sich in die Mitte, hing sich je an einen Flügel und schloss sie. Und öffnete sie. Und schloss sie. Und öffnete sie. Das ging sehr lange so. Der Rahmen ächzte. Der Junge auch. Über seinen Bauch spannte sich ein äußerst enges Spiderman-T-Shirt. (Nicht zu seinem Vorteil.) Die Anverwandten dieses Nervzwergs, Eltern und Großeltern beachteten ihn nicht. Mich hätte man bereits beim Berühren des Türgriffes zurückgepfiffen, als Kind. Nicht so die Schweden. Die machen auf Laissez-faire und schlürfen ihren Cappucino. Während ihre Kinder fremde Leute tyrannisieren.
Ihr Europäer seid da sanfter, sagte meine taiwanische Lehrerin neulich zu mir. Sie hatte mich zuvor gefragt was meine Eltern getan hätten, wenn ich nicht auf sie hatte hören wollen. Fernseh-Verbot. Donnerwetter. Allerdings nur verbal, hatte ich hinzugefügt. Ja, sagte sie, äußerst wohlwollend. So ist das bei euch. Und ich sah in ihren Augen, dass „sanft“ eigentlich „verweichlicht“ bedeutete. Meinen Kindern habe ich natürlich mal einen Klaps gegeben, sagte sie. Das ist zu ihrem Besten und für die Eltern viel schmerzvoller, psychisch, als für die Kleinen. Oder ich habe sie eben eine Weile an die Teppich-Stange gehangen.
Ich hielt das für einen Witz. Rein Umsetzungstechnisch. Ich erinnere mich nämlich noch sehr gut an meine Turn-Traumata im Schul-Sportunterricht. Eine Weile am Reck hängen? Nie im Leben. Nicht ohne Schmerzen. Nicht ohne Fallenlassen.
Meine Skepsis bekam Kratzer, als ich eine taiwanische Freundin zu dieser Methodik befragte. Wurdest du als Kind mal an eine Stange gehangen?, fragte ich. Sicher, wenn ich nicht brav war, sagte sie erstaunt. Du nicht? Nee, sagte ich, und ich hätte außerdem losgelassen. Ging ja nicht, sagte sie, wir waren klein, die Stange hoch. Große Güte, dachte ich. Ein Scherz. Ein sarkastischer noch dazu. Ich freute mich.
Bis heute Morgen. Neben meinem Wohnheim ist ein Kindergarten. Üblicherweise spielen die Kinder, wenn ich zur Uni gehe, im Garten, auf dem Spielplatz, im Sonnenlicht. Eine Idylle. Heute war das anders, mein Blick fiel auf die Reckstangen, wo eigentlich nie etwas los ist. (Kein Wunder.) Heute entdeckte ich ihre tatsächliche Funktion. An einer der hohen Stangen hing ein kleiner Zwerg, höchstens vier Jahre alt, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Wie ein kleiner Affe hatte er seine Beine, um den rechten Pfosten geschlungen, um die Arme zu entlasten. Neben ihm stand eine Frau in hellblauer Strickjacke und Kostüm, strengen Blickes zählend. 十, 十一, ,十二… Bei jeder Zahl schnappte der Kleine nach Luft. (Ich auch.) Bis 20 ging das so. Danach wurde er heruntergehoben. Wir beide atmeten auf.